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Matthias Heitmann  Klartext

Genfrei in der Zukunft

„Genfrei gehen“ ist das Motto von Joseph Wilhelm, Vorstand der Rapunzel Naturkost AG. Bereits im Sommer 2007 wanderte er als wandelnder Unterschriftensammler und mobile Mahnwache von Lübeck nach Lindau mit dem Ziel, „den Landwirtschaftspolitikern und der dahinterstehenden Gentechnik-Lobby die rote Karte“ zu zeigen. Hat wohl nicht geklappt. Drum war er im Sommer 2009 erneut auf Schusters Rappen unterwegs, diesmal jedoch von Ost nach West: von Berlin nach Brüssel. Wilhelms Einsicht nach der rund einmonatigen Wandertour: „Mensch muss sich selbst bewegen, um etwas (andere) in Bewegung zu bringen“(www.genfrei-gehen.de). Es soll Leute geben, die das schneller rausgefunden haben. Egal: Der Mann hat ja auch andere Qualitäten. Sein Unternehmen ist eines der führenden im Bereich Erzeugung, Herstellung und Vertrieb von vegetarisch-biologischen Lebensmitteln. Es verzeichnet mit rund 300 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von mehr als 100 Millionen Euro. So ganz genfrei geht es da also nicht zu – hoffentlich zumindest: Schließlich ließ die Biomarktkette Alnatura kürzlich mit Entlohnungspraktiken aufhorchen, die suggerieren, Mitarbeiter sollten sich vollständig genfrei ernähren. Bis zu 33 Prozent unter Tarif sollen die Löhne von Alnatura-Kassiererinnen gelegen haben, bis man, nachdem dies publik wurde, nachbesserte, obwohl dies ja eigentlich gar nicht nötig sei, wie Firmenchef Götz Rehn gegenüber der taz (29.3.10) behauptete: „Wir haben eine Bieneninitiative. Wir haben Theatergruppen. Wir haben einen Chor. Wir haben die Yoga-Gruppe. Wir haben Winterseminare“, zählt er auf. „Das bedeutet ja alles eine Erhöhung des Gehalts.“ Na klar, Ka(rma)pitalismus eben. Die Frage, ob Wilhelms Angestellte freiwillige genfreie Solidarabschläge entrichteten, um ihren wanderwütigen Chef auf dem Weg nach Brüssel mit Betriebs-Yoga-Stunden energetisch zu dopen, soll hier nicht geklärt werden. Im Übrigen sollte man, ähnlich wie beim Bruttosozialprodukt, auch bei Tariflöhnen nicht immer nur die blanken Zahlen sehen, sondern auch in Betracht ziehen, dass vielleicht auch niedrigere Löhne „glücklich“ machen können. Wilhelm macht es vor: Er geht völlig „genfrei“.



Erschienen in NovoArgumente Nr. 106 (5-6 2010)