Gunther von Hagens bläst wieder einmal der Wind ins Gesicht. In seiner Ausstellung „Körperwelten“, die noch bis Mitte September in Augsburg gastiert, darf er keinen plastinierten Geschlechtsakt zeigen. Die Stadt Augsburg hat Anfang August ein Verbot erlassen, da das Exponat „gegen die Würde der Verstorbenen“ verstoße und „das sittliche Empfinden der Allgemeinheit“ verletze.
Wieder einmal kann sich von Hagens angesichts der enormen Rückständigkeit seiner Kritiker als revolutionärer Aufklärer und Kämpfer gegen die Zensur gebärden. Dabei sind die Motive, die seit Jahren Zehntausende in die Ausstellung treiben, alles andere als revolutionärer Natur.
Das Gewähren öffentlicher Einblicke in den menschlichen Körper hatte im Mittelalter und in der beginnenden Moderne durchaus eine aufklärerische Funktion. Das heutige Interesse am menschlichen Körper gleicht hingegen eher einer Nabel- und Selbstschau, die nicht, wie zu Zeiten da Vincis und Michelangelos, den Ausgangspunkt für das Verstehen der Welt darstellt, sondern in einem Klima der Stagnation, Verunsicherung und Ohnmacht hinsichtlich der bedrohlichen „Welt da draußen“ gedeiht. Dieser Rückzug aus der Welt endet naturgemäß in der eigenen „Körperwelt“. Die Faszination am menschlichen Leib – auch im toten Zustand – hat daher viel mehr mit Piercing, Tattooing und den modernen Fitness-, Wellness- und Gesundheitstrends gemein als mit dem von konservativen Hagens-Kritikern befürchteten „revolutionären“ Sittenverfall.
Erschienen in: NovoArgumente (Nr. 102, 9-10 2009), www.novo-argumente.com
Siehe hierzu den Artikel "Der Blick durch den Bauchnabel" in Novo63 (3-4 2003).