Als arg dünnhäutig und wenig souverän könnte man die Reaktion des SAP-Gründers abtun und zum Alltag übergehen. Doch die Reaktion von BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sowie großer Teile der deutschen Fußball-Öffentlichkeit lässt erahnen, dass diese Lappalie den Startschuss für eine weit gehende Reglementierung dessen darstellt, was man künftig auf den Rängen von sich zu geben berechtigt ist: „Wir werden alles daran setzen, dass Leute, die unter dem Deckmantel von BVB-Fans aus der Rolle fallen, nicht länger den Ruf des BVB beschädigen“, kündigte der BVB in einer Pressemitteilung an und behielt sich das Recht vor, künftig Stadionverbote gegen Pöbler zu verhängen.
Wenn dies Schule macht, könnte es bald leer, langweilig und sehr lahm werden in den Fankurven. Im Wettstreit der Fanblocks geht es grundsätzlich darum, gerade das zu verhöhnen, was dem Gegner das Heiligste ist. Und das ist nun einmal per se politisch unkorrekt. Hier gehören wüste Beschimpfungen wie „Hurensohn!“, „Arschloch“ oder noch ausgefeiltere Nettigkeiten wie „Eure Eltern sind Geschwister!“ zum belanglosen Alltag. Diese schöne alte Tradition gerät immer stärker in Konflikt mit der um sich greifenden „Beleidige-niemanden!-Kultur“, in der die einzig geduldete Emotion die des stummen Verharrens während einer der immer zahlreicher werdenden Schweigeminuten ist. In den 80er-Jahren wurde der Fußball das Testfeld für neue Technologien zur Kontrolle der Massen; heute ist er die Arena, in der neue Formen moralischer Regulation erprobt werden. Wie lang wird es dauern, bis Stadionbesucher auf ihrem Platz einen offiziellen Liederzettel vorfinden?