„Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen“ (Die Rede von Benedikt XVI. im Wortlaut unter: http://www.faz.net/artikel/C32826/papst-benedikt-xvi-die-oekologie-des-menschen-30691002.html). War dies wirklich das Staatsoberhaupt des Vatikans, oder war es der Bruder im Geiste des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der weiland 1997 die Notwendigkeit des später viel zitierten wie belächelten „Rucks“ beschwor, der durch Deutschland gehen müsse? Dass das katholische Kirchenoberhaupt Jahre später in ähnlich Manier an die Politik appelliert, ist beruhigend wie alarmierend zugleich: beruhigend, weil diese katholische Kirche kaum mehr für sich reklamiert, als dazu beizutragen, der Politik das Unterscheiden zwischen Gut und Böse zu erleichtern und der Entfaltung menschlicher Freiheit dienen zu wollen. Fest eingebunden in rechtsstaatliches Denken und Agieren erklärte Benedikt XVI das Auftreten antireligiöser Demonstrationen in Berlin wohlwollend als Bestandteils des Alltags in einer Demokratie. Hier gilt es, Respekt zu zollen: Nicht alle sich als demokratisch Bezeichnenden in diesem Land halten die Demonstrationsfreiheit, insbesondere, wenn es um religiöse Fragen geht, so hoch wie Benedikt XVI.
Alarmierend war Benedikts Auftritt insofern, als dass er mit seiner Fähigkeit, Gegner wie Anhänger zu verblüffen, der Politik ein fatales Zeugnis ausstellt: Wenn sich die politische Elite von einem als erzkonservativ und stocksteif geltenden Papst die Leviten lesen lässt und dieser sich bei der Verwendung von als progressiv geltendem politischen Vokabular nicht einmal mehr inhaltlich verbiegen und strecken muss, dann sind intellektuelle Ermattung und Orientierungslosigkeit weit fortgeschritten. Es ist bezeichnend für die politische Kultur eines Landes, wenn die Rede eines katholischen Kirchenoberhauptes im Parlament von nahezu allen Beteiligten als „erfrischend“ wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund erscheint der schon Tage zuvor angekündigte und heftig debattierte Papst-Boykott zahlreicher Bundestagsabgeordneter noch betrüblicher. „Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen“, so der obersten Hirte Gottes. Hätte nicht ausgerechnet er es gesagt, man müsste glatt auch im Karl-Liebknecht-Haus der Linken zustimmen. Höchstwahrscheinlich war das der Grund für deren Boykott: Man wollte nicht feststellen, dass die eigene politische Kritik mittlerweile auf Augenhöhe mit der vatikanischen Staatsdoktrin steht und man selbst gewissermaßen päpstlicher ist als der Papst. Es ist schlimm für das eigene kritische Selbstverständnis, wenn man an der Rede eines klassischen Feindes kaum etwas auszusetzen hat.
Dabei gab die Rede Benedikts durchaus Anlass zur Kritik. Da ist zum einen die bereits erwähnte Anpassung an den grün-ökologischen Zeitgeist. Dass der deutsche Papst entgegen der klassisch christlichen Lesart, der zufolge sich der Mensch „die Erde untertan“ machen solle (Genesis 1, 28) nunmehr vor dem Bundestag betont, dass „die Erde ihre Würde selbst in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen“, ist durchaus als eine solche Anpassung zu verstehen. Allerdings als eine durchaus geschickte, denn Benedikt kann, wie auch Paul Georg Hefty in seinem Leitartikel „Die Würde der Erde“ in der F.A.Z. vom 23.9. feststellt, darauf vertrauen, dass „die jugendlichste politische Bewegung, die der Ökologen und Grünen, es fortan weitertragen“ werde (http://www.faz.net/artikel/C30089/papst-rede-im-bundestag-die-wuerde-der-erde-30691197.html).
In eine ähnliche Richtung argumentierte Benedikt auch, als er über die Ökologie des Menschen sprach, in der es wenig Platz für eine selbstbestimmte Entwicklung des Menschen zu geben scheint. Auch der Mensch, so der Papst, habe eine Natur, die er achten müsse und die er nicht beliebig manipulieren könne. Der Mensch sei nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch mache sich nicht selbst. Mit dieser konsequenten Auslegung des ökologischen Grenzendenkens punktet der Papst in der deutschen Öffentlichkeit, die wie kaum eine andere in der Welt durch die Angst vor vermeintlichem menschlichem Hochmut und vor Technologiegläubigkeit geprägt ist.
Hinzu kommt die so elegante wie atemberaubende Geschichtsglättung, die der Papst in seiner Rede vornahm: Mit nur zwei Sätzen packte er den über Jahrhunderte die politische und gesellschaftliche Entwicklung Europas prägenden blutigen Konflikt zwischen weltlichen und religiösen Machtansprüchen in die Schublade für lästige Kleinigkeiten und erfand Europas Geschichte als bruchlose Fortentwicklung katholischen Denkens neu: „Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht vorgegeben. [Von] der vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem Grundgesetz.“ Nicht, dass man von Benedikt XVI. erwarten würde, den Hunderttausenden von Europäern Respekt zu zollen, die im Kampf gegen die Allmacht der Kirche oder der sich mit ihr schmückenden weltlichen Mächte ihr Leben ließen. Die Religionskritiker sind es, die hier aufzuspringen hätten! Doch deren Anverwandte wanderten lieber durch das sonnige Berlin und forderten auf Plakaten „Kondome für alle“ und „Mösen in die Diözesen“.
Eine überraschend moderne, philosophische und politische Rede sei es gewesen, wurde dem Papst anschließend von zahlreichen, fast erleichtert wirkenden Bundestagsabgeordneten bescheinigt. Es war also leider nicht nur gastfreundliche und religiös motivierte Höflichkeit, sondern tatsächliche Begeisterung unter den Parlamentariern. Man hat zuweilen den Eindruck, ein jeder, der sich in spirituellen Gefilden bewegt und für sich in Anspruch nimmt, demokratisch gewählten Politikern etwas von Moral berichten zu können, ganz gleich, ob nun der Papst oder der Dalai Lama, ist ein händeringend herbeigesehnter Gast, der den Bundestag ein wenig in geistigem Glanze erscheinen lassen soll. Die weitgehende Übereinstimmung zwischen Papst und den anwesenden Abgeordneten ist indes kein Indiz dafür, dass die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Kirche durch eine vatikanische Offensive gefährdet wird. Viel problematischer ist es, wenn den kritischen Geistern unseres Landes nichts anderes einfällt, als die Rede eines erzkonservativen Kirchenoberhaupts als moralische Leitlinie für die Politikgestaltung im 21. Jahrhundert anzunehmen. Ein bekannter Slogan der 68er-Bewegung bezüglich der katholischen Kirche lautete: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Heute fordert der wie ein moderner Intellektueller auftretende Papst die Politik auf, frischen Wind hereinzulassen. Heilige Mutter Gottes, das ist wirklich problematisch!
Der Artikel ist am 26.9.11 auch erschienen auf NovoArgumente Online.