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Matthias Heitmann  Klartext

Die „Wahrheit“ über den Afghanistan-Krieg?

Kennen wir jetzt, nachdem die geheimen Dokumente über die Ereignisse in Afghanistan an die Öffentlichkeit gelangten, nun wirklich die Wahrheit über das, was seit Jahren am Hindukusch passiert? Vielleicht wissen wir darüber tatsächlich nun ein wenig mehr als vorher. Jedoch nichts wirklich Überraschendes. Denn dass dort seit Jahren ein Krieg herrscht, wussten wir lange, bevor die Politik diese Bezeichnung nicht mehr als völlig realitätsfern von der Hand weisen konnte. Zu dieser Einsicht bedurfte es keiner Geheimdokumente. Sicherlich liefern die Dokumente einige interessante Details, aber diese sind nur dann von Bedeutung, wenn sie in ein grundlegendes Gesamtverständnis der Dynamik, der Ursachen und der Konsequenzen des Afghanistankrieges eingeordnet werden. Ein solches Verständnis kann jedoch nur als Produkt eines kritischen Denkprozesses entstehen.


Viel bedrückender als die vermeintlich „neue Faktenlage“ ist die Art und Weise, wie diese von weiten Teilen der Medienwelt aufgenommen wurde und was dies über das dort weit verbreitete Selbst- und Berufsbild aussagt. Anscheinend geht die etablierte Journaille mittlerweile davon aus, dass sie die „Wahrheit“ gefälligst von den Regierenden selbst auf dem Silbertablett serviert zu bekommen hat. Vielleicht ist diese Attitüde des An-den-regierungsamtlichen-Lippen-Hängens auch der Grund dafür, warum heute Regierungssprechern eine so prominente Rolle im politischen Apparat zukommt und so gerne prominente und in der Medienwelt geschätzte Fernsehgesichter wie jüngst Steffen Seibert auf diese Posten berufen werden.


Dass Wahrheit tatsächlich aber etwas ist, das man durch kritisches Hinterfragen „offizieller Wahrheiten“ herausfinden muss, ist eine für nahezu alle Lebenszusammenhänge grundlegende Tugend, die jedoch dem modernen Journalismus ganz offensichtlich gänzlich abhanden gekommen ist. Daher wurde dann auch nicht der Inhalt der Geheimdokumente, der kaum anders kommentiert wurde als mit der revolutionären Erkenntnis, es handele sich tatsächlich um einen „Krieg“, sondern vielmehr ihr Öffentlichwerden zum eigentlichen Hauptthema hochstilisiert. Hinter dieser Skandalisierung fiel das eigentliche Thema schnell unter den Tisch. Mit kritischem und aufklärendem Journalismus hat dies ungefähr so viel zu tun wie das Veröffentlichen von Fotos der fremdknutschenden Gattin von Lothar Matthäus.



Erschienen in Novo108/109 (9-12 2010)